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Bevor ich Systeme wie KULT: Die Verlorene Göttlichkeit, Mythos World oder World Wide Wrestling vorstelle, ist es sinnvoll, zunächst die Mechanik dahinter zu erklären. Denn all diese Spiele basieren auf PbtA – Powered by the Apocalypse.
PbtA umfasst eine Menge von Rollenspieltiteln, die auf dem 2010 erschienenen Apocalypse World von Vincent und Meguey Baker basieren. Seitdem haben unzählige Entwickler diese Grundlage genutzt, um eigene Werke – sogenannte Hacks – zu entwickeln: Von düsterem Horror bis hin zu leichter Fantasy. Ehrlich gesagt gibt es wohl kein Genre und kein Setting, für das es nicht irgendeinen PbtA-Ableger gibt.
Mit Blades in the Dark und dem daraus entstandenen Forged in the Dark-System existiert sogar eine Weiterentwicklung auf dieser Basis.
Meiner bescheidenen Meinung nach sprechen wir hier über ziemlich heißen Scheiß.
Aber heute soll es einfach um die Grundmechanik gehen – die ist bei den meisten Hacks gleich oder zumindest sehr ähnlich.
Hat man ein PbtA-System verstanden, findet man sich in jedem anderen sofort zurecht.
Die grundlegende Mechanik dahinter besteht aus dem Wurf zweier sechsseitiger Würfel (2W6). Die Höhe des Ergebnisses gibt dann an, ob es sich um einen Erfolg, Teilerfolg oder Misserfolg handelt. Daraus resultiert dann, was als nächstes geschieht. Die Charaktere sind in sogenannten Spielbüchern als Grundgerüst vorgegeben und werden dann vom Spieler ausgestaltet.
Die Philosophie dahinter
Klar, Pen & Paper kann man immer spielen, wie man möchte.
Trotzdem ziehe ich zur Einordnung ein bekanntes System heran, um die typische PbtA-Spielweise daran zu erklären.
Play to find out – ein Kernprinzip von PbtA – kann theoretisch in jedem Rollenspiel angewendet werden, ist aber beim aktuellen D&D 5 eher unüblich.
Erzählspiel statt Simulation
D&D legt großen Wert auf eine mechanische Simulation der Spielwelt, vor allem in Kämpfen, deren Anteil locker 50 % oder mehr einer Sitzung einnehmen können.
Die Regeln bilden die Welt ab – mit Angriffswerten, Trefferpunkten, Zaubern, Ausrüstung, Positionsspiel usw.
Würfe werden oft gemacht, um zu prüfen, ob eine geplante Aktion technisch funktioniert.
PbtA dagegen folgt dem Prinzip: Play to find out.
Hier geht es nicht um Simulation, sondern um die Dramaturgie der Geschichte. Würfe werden nur gemacht, wenn sie dramatische Konsequenzen haben können, also die Geschichte voranbringen.
Ob jemand etwas schaffen könnte, ist zweitrangig – wichtiger ist, welche Auswirkungen das Handeln hat, selbst ein Scheitern erzählt die Geschichte weiter (fail forward).
Micromanagement, etwa genaue Bewegungen im Raum, spielt keine Rolle.
Kurz gesagt:
D&D simuliert eine Welt.
PbtA inszeniert eine Geschichte.
Beispiel: D&D
Situation: Ein Gegner hat die höhere Initiative und greift dich an.
Was passiert?
Du musst abwarten. Die Initiative legt fest, wer wann dran ist.
Da der Gegner zuerst handelt, kannst du selbst nichts aktiv tun, außer deinen Charakter betrifft eine Sonderregeln wie eine Reaktion (z. B. Abwehrhaltung).
Der Gegner würfelt einen Angriff gegen deinen Rüstungswert (Armor Class, AC). Trifft oder übertrifft er deinen AC, wird Schaden ausgewürfelt.
Deine Rolle ist passiv: Du verteidigst dich automatisch über Werte und Regeln.
Philosophie:
Die Welt läuft mechanisch ab. Ob du getroffen wirst oder nicht, hängt vom Würfelergebnis und deinen fixen Werten ab.
Beispiel: PbtA
Situation: Ein Gegner schießt auf dich.
Was passiert?
Du reagierst sofort aktiv. Der Spielleiter beschreibt die Bedrohung (Er hebt die Waffe und drückt ab!) und du sagst, was du tust:
Ich werfe mich zur Seite! oder Ich renne auf ihn zu!
Du nutzt den Spielzug Schaden vermeiden.
Wurf + etwaiger Bonus:
Misserfolg → du wirst voll getroffen.
Teilerfolg → du kannst etwas opfern und nur Teilschaden erleiden.
Erfolg → du weichst komplett aus oder kontrollierst die Lage zu deinem Vorteil.
Dabei geht es nicht nur um den erlittenen Schaden, sondern auch darum, was dein Charakter aus der Situation macht: Fliehen? Hilfe holen? Angreifen?
Alles Erzählmöglichkeiten.
Philosophie:
Du bist aktiver Teil der Geschichte. Erfolg oder Misserfolg hängt nicht nur von Werten ab, sondern von deinem Handeln.
Jede Reaktion bringt Drama, nicht nur Statistik. Darüber hinaus ist die Reihenfolge nicht fest vorgegeben, sondern wird logisch nach Aktion/Reaktion vorgegeben.
Später schauen wir uns noch die Wahrscheinlichkeitsverteilung genauer an – denn volle Erfolge sind eher selten, Miss- und Teilerfolge sind die Norm.
Das dient der Spannung, nicht der Benachteiligung der Charaktere.
Spielzüge statt allgemeiner Proben
Anders als klassische Systeme arbeiten PbtA-Spiele mit sogenannten Moves – im Deutschen oft Spielzüge genannt.
Sie sind klar formulierte Auslöser: Wenn eine bestimmte Handlung oder Situation eintritt, wird ein Spielzug ausgelöst (Er schießt – Du vermeidest Schaden oder einen anderen Spielzug, wenn deine Beschreibung etwas anderes hergibt).
Im Gegensatz zu einer klassischen Probe (ich würfle mal drauf) geht es das, was du beschreibst.
Man löst Spielzüge also nicht sklavisch aus, sondern beschreibt, was der Charakter tut – der Spielleiter entscheidet dann, ob ein Spielzug greift. Spieler können ebenfalls über das Auslösen eines Spielzugs entscheiden.
Mehr dazu bei den Vorstellungen der jeweiligen Hacks und Spielleiterstilen (künftige Artikel).
Zwei Würfel, drei Ergebnisse
Am obigen Beispiel sieht man: Ein Würfelwurf bringt drei mögliche Ausgänge:
Misserfolg: Scheitern oder hohes Risiko.
Teilerfolg: Ziel erreicht, aber zu einem Preis.
Erfolg: Ziel erreicht ohne Probleme.
Einige Systeme bieten bei besonders hohen Ergebnissen (z. B. ab 12 oder bei einem Pasch) zusätzliche Boni.
Ergebnis | Bedeutung | Wahrscheinlichkeit |
---|---|---|
2-6 | Misserfolg | ca. 42% |
7-9 | Teilerfolg | ca. 44% |
10-12 | Erfolg | ca. 14% |
Ergebnis | Bedeutung | Wahrscheinlichkeit |
---|---|---|
2-9 | Misserfolg | ca. 40% |
10-14 | Teilerfolg | ca. 45% |
15-20 | Erfolg | ca. 15% |
Fail Forward als Designphilosophie
Fail Forward heißt: Ein Fehlschlag bedeutet keinen Stillstand, sondern neue Komplikationen oder Wendungen. Dies ist natürlich auch notwendig, da die Wahrscheinlichkeit eines Misserfolges bei 40%+ liegt und ein voller Erfolg nur bei ca. 15%. Ohne fail forward würde es nicht weitergehen und die Charaktere immer tiefer sinken, was sehr frustrierend wäre.
Statt:
Du knackst das Schloss nicht. Versuch’s nochmal.
heißt es bei PbtA:
Eine Wache entdeckt dich.
Der Alarm geht los. Versuche das Schloss unter diesem Zeitdruck zu knacken. (Teilerfolg)
Das Schloss öffnet sich – aber ein Teil der Beute geht in der Eile verloren.
Während man in D&D etwas nicht schafft, kann man in PbtA etwas schaffen und doch böse Konsequenzen spüren.
Scheitern treibt die Geschichte voran.
Misserfolge sind für die Spielleitung der Startschuss, etwas Neues einzubringen: eine Gefahr, eine Wendung, eine Verschärfung der Lage.
Auch Teilerfolge bringen oft einen Preis oder neue Komplikationen.
So bleibt die Erzählung immer in Bewegung, egal, wie die Würfel fallen.
Kurz gesagt:
PbtA ist ein Paradebeispiel für Fail Forward:
Misserfolge bringen Schwung, nicht Stillstand.
Modifikatoren ändern zwar das Verhältnis zwischen Erfolg, Teilerfolg und Misserfolg, aber die Wahrscheinlichkeit, eine 10+ bzw. 15+ zu würfeln steigt nie über 53% bzw. 55%.
Modifikator | Misserfolg (2-6) | Teilerfolg (7–9) | Erfolg (10-12) |
---|---|---|---|
–1 | ca. 58 % | ca. 33 % | ca. 9 % |
±0 (keiner) | ca. 42 % | ca. 44 % | ca. 14 % |
+1 | ca. 28 % | ca. 44 % | ca. 28 % |
+2 | ca. 17 % | ca. 41 % | ca. 42 % |
+3 | ca. 8 % | ca. 39 % | ca. 53 % |
Modifikator | Misserfolg (2–9) | Teilerfolg (10–14) | Erfolg (15–20) |
---|---|---|---|
–1 | ca. 55 % | ca. 35 % | ca. 10 % |
±0 | ca. 40 % | ca. 45 % | ca. 15 % |
+1 | ca. 25 % | ca. 45 % | ca. 30 % |
+2 | ca. 15 % | ca. 40 % | ca. 45 % |
+3 | ca. 10 % | ca. 35 % | ca. 55 % |
Die Erzählprinzipien
Die Spielleitung in PbtA wird ermutigt, die Welt aggressiv, aber fair zu gestalten: Herausforderungen setzen, auf Entscheidungen flexibel reagieren.
Statt starrer Regeln gibt es Prinzipien und Handlungsanweisungen, die helfen, den richtigen Ton und die Dynamik zu halten.
Typische Prinzipien sind:
- Sei ein Fan der Charaktere.
- Zeige die Welt durch die Sinne.
- Führe die Spieler in Gefahr, aber gib ihnen eine Wahl.
- Play to find out.
Der Spielleiter würfelt nicht. Wird ein Spielzug ausgelöst und es kommt zu einen Teil- oder Misserfolg, gehen die Erzählrechte an den Spielleiter über, der auch Spielzüge für solche Situationen hat. So kann er die Gruppe teilen, die Gefahr im Allgemeinen erhöhen oder schreckliche Geheimnisse offenbaren. Je nach Hack und Genre gibt es eine Vielzahl von SL- Spielzügen.
Bomben und Fronten
Um die Welt spannend zu halten, gibt es sogenannte Bomben oder Fronten (je nach Hack unterschiedlich benannt). Das sind Gefahren, die Auftreten, ohne einen aktiven Auslöser zu haben. Ähnlich einem Tracker, werden nach gewissen Zeitabständen also solche Bomben gezündet oder neue Fronten eröffnet. Die Charaktere müssen also reagieren.
Die Konversation
Viele Szenen entstehen durch ein Gespräch: Wie fühlt sich dein Charakter gerade? Warum fühlt er sich so? Was sieht dein Charakter? Wieso ist diese Gegend so heruntergekommen? oder Wen kennt dein Charakter in New Orleans? Durch solche Fragen wird der Charakter Mehrdimensional und die Spielwelt wird von den Spielern aktiv mitgestaltet. Zudem bieten die Antworten gute Anknüpfungspunkte für neue Storylines.
Playbooks und Charaktere als Archetypen
Statt freier Charaktererschaffung gibt es in vielen PbtA-Spielen Playbooks:
Vorgefertigte Archetypen, die eigene Spielzüge und Optionen bieten.
Man wählt eine Figur und individualisiert sie über festgelegte Auswahlmöglichkeiten.
Das erleichtert den Einstieg, setzt klare Konfliktthemen und verankert die Charaktere im erzählerischen Rahmen des Settings. Der Charakter entwickelt sich im Spiel. So muss der Archetyp Agent aus KULT nicht zwingend in diesem Beruf tätig sein, es beschreibt eher die Geisteshaltung des Charakters. In Dungeon World spiegeln die Playbooks aber tatsächlich eher die typische Klasse eines Helden wider, hier unterscheiden sich die einzelnen Hacks.
Zum Schluss eine Klarstellung
Ich mag D&D und ich weiß, dass man eben nicht so leiten soll, dass ein Scheitern zu einer Sackgasse wird. Ich habe es rein zur Gegenüberstellung so überspitzt dargestellt. D&D ist sehr bekannt, auch bei Nichtrollenspielern, daher habe ich es als Gegenüberstellung herangezogen.