Inhalt
Nachdem ich im letzten Artikel das Regelgerüst von Powered by the Apocalypse (PbtA) vorgestellt habe, möchte ich diesmal das Cypher System beleuchten. Immerhin gibt es mit Old Gods of Appalachia und The Magnus Archives zwei Systeme, die auf dieser Mechanik basieren – beide will ich demnächst näher vorstellen. Wie der Artikel zu PbtA soll auch dieser Beitrag als Grundlage dienen.
Was ist das Cypher System?
Das Cypher System wurde ursprünglich für Numenera entwickelt. Inzwischen ist es setting- und genreunabhängig und dient bei Monte Cook Games als hauseigenes Universalregelwerk.
Cypher ist das System, bei dem man seinen Charakter mit einem Satz baut oder: Cypher verwendet die gleichnamigen Cypher, einzigartige Gegenstände mit besonderen Eigenschaften, die nur einmalig gebraucht werden können.
Als ich diese Dinge zum ersten Mal gelesen habe, war ich genauso schlau wie zuvor.
Was mich bei neuen Systemen am meisten interessiert, ist: Wie funktionieren Proben und Herausforderungen?
Cypher ist ein W20-System, bei dem man einen Zielwert übertreffen muss. Das bedeutet: Jede Herausforderung hat einen Schwierigkeitsgrad (SG), den man mit einem Wurf übertreffen muss. Anstatt Boni zum Würfelergebnis zu addieren, versucht man, den Schwierigkeitsgrad vor dem Wurf zu senken.
Schwierigkeitsgrade und Zielwerte
Alle Aufgaben werden vom Spielleiter auf einer Skala von 0 (automatischer Erfolg) bis 10 (praktisch unmöglich) eingeordnet. Der SG wird mit 3 multipliziert – das ergibt den Zielwert, den der Spieler mit einem Wurf auf einem W20 erreichen oder übertreffen muss.
Schwierigkeitsgrad | Zielwert | Beschreibung | Wahrscheinlichkeit mit einem W20 |
---|---|---|---|
0 | 0 | Routine | 100% |
1 | 3 | Einfach | 90% |
2 | 6 | Standard | 75% |
3 | 9 | Anstrengend | 60% |
4 | 12 | Schwierig | 45% |
5 | 15 | Herausfordernd | 30% |
6 | 18 | Einschüchternd | 15% |
7 | 21 | Beeindruckend | 0% |
8 | 24 | Heroisch | 0% |
9 | 27 | Unsterblich | 0% |
10 | 30 | Unmöglich | 0% |
Wie senkt man den Schwierigkeitsgrad?
Spieler können den SG auf verschiedene Arten senken:
- durch Fähigkeiten, z. B. Schleichen, Verkleiden etc.
- durch Anstrengungen (Effort), bei denen Attributspunkte eingesetzt werden
- durch Hilfsmittel oder Unterstützung durch andere Charaktere
Beispiel: Ein Charakter mit der Fähigkeit Schleichen versucht, sich unbemerkt zu entfernen. Der Spielleiter legt SG 5 fest (Zielwert 15). Die Fähigkeit senkt den SG um 1 – der neue Zielwert ist 12. Schafft der Charakter beim Wurf eine 12 oder mehr, gelingt das Vorhaben.
Attribute und Pools
Cypher kennt drei Attribute: Kraft, Geschwindigkeit und Intellekt. Jedem Attribut ist ein Punktepool zugeordnet, der als Ressource dient. Typischerweise startet jeder Pool mit etwa 10 Punkten.
Diese Pools werden verwendet, um:
- Anstrengungen zu unternehmen (SG senken)
- Fähigkeiten einzusetzen (Manche Fähigkeiten kosten Punkte)
- Schaden aufzunehmen
Anstrengung (Effort)
Eine der zentralen Mechaniken im Cypher System ist die sogenannte Anstrengung. Sie erlaubt es, den Schwierigkeitsgrad einer Herausforderung aktiv zu senken und so die Erfolgschancen zu erhöhen.
Statt Boni zu addieren oder Vorteile zu würfeln, wie in anderen Systemen, entscheidet man bewusst: Will ich diese Aktion besonders gut machen? Wenn ja, kann man eine Anstrengung einsetzen.
Wie funktioniert das?
Man gibt Punkte eines Attribut-Pools (Kraft, Geschwindigkeit oder Intellekt) aus, um eine bestimmte Aufgabe leichter zu machen. Welche Art von Pool betroffen ist, hängt von der Art der Aktion ab:
Kraft: Körperliche Aktionen (z. B. Türen aufbrechen, Ringen, Waffen führen)
Geschwindigkeit: Ausweichen, Schleichen, Initiative
Intellekt: Rätsellösen, Täuschen, Magie oder Technik (je nach Setting)
Um eine Stufe Anstrengung anzuwenden, muss man 3 Punkte aus dem entsprechenden Pool ausgeben sowie zusätzlich den sogenannten Aufwandskosten-Abzug (Edge) berücksichtigen.
Der Edge ist ein Wert, den man für jedes Attribut einzeln besitzt. Er reduziert die Kosten für Anstrengung oder Fähigkeiten. Wenn der Edge zwei beträgt und eine Aktion mit Anstrengung normalerweise drei kostet, kostet dich das statt 3 Punkte nur 1 Punkt aus dem Pool.
Die Anzahl der Anstrengungen werden durch den Charakter und der Anzahl der verfügbaren Pool Punkte begrenzt.
Schaden nehmen
Wird ein Charakter getroffen, verliert er Punkte aus einem Pool. Sinkt ein Pool auf 0, hat das Einschränkungen zur Folge. Sind alle drei Pools auf 0, ist der Charakter tot.
Die Pools sind aber keine klassischen Trefferpunkte, sondern flexible Ressourcen, die sich auch außerhalb des Kampfes nutzen und regenerieren lassen. Das führt zu taktischen Überlegungen: Will ich mich jetzt verausgaben – oder lieber etwas aufsparen?
Spielleitung und Würfel
Ein markantes Merkmal: Der Spielleiter würfelt nie. Stattdessen gibt er Schwierigkeitsgrade vor – die Spieler würfeln für alles, auch für Verteidigung.
Weitere Besonderheiten:
- Initiative wird flexibel gehandhabt.
- Waffen verursachen festen Schaden, der durch Fähigkeiten modifiziert werden kann.
- Fähigkeiten decken alle möglichen Bereiche ab – von Klettern bis Robotermechanik.
Gegner on the fly
Der Spielleiter kann Gegner schnell selber erstellen: Die Schwierigkeit wird wie jede andere Herausforderung von 1 bis 10 bestimmt (0 ist ja keine Herausforderung), dieser Wert ergibt dann auch den Schaden, den der Gegner verursacht. Der Zielwert, also SGx3, entspricht den Trefferpunkten des Gegners.
Eine Standardkreatur verursacht 2 Schaden und hat 6 Trefferpunkte.
Charaktererschaffung mit einem Satz
Charaktere im Cypher System werden mit einem einzigen Satz beschrieben. Der Satz besteht aus:
Adjektiv – Substantiv – Verb/Phrase
z. B.: „Ich bin ein ehrenhafter Schurke, der tut, was getan werden muss.“
Diese drei Satzteile haben klare Funktionen:
Deskriptor (Adjektiv): beschreibt Persönlichkeit oder Besonderheit
Typ (Substantiv): entspricht einer groben Klasse oder Rolle (Krieger, Adept, Erkunder, Sprecher)
Fokus (Verb/Phrase): beschreibt eine zentrale Fähigkeit oder Motivation
Hinter jedem Teil stecken diverse Spielwerte und Fähigkeiten. Zwei Spieler mit demselben Satz können dennoch völlig unterschiedliche Werte und Schwerpunkte haben.
Ein Schurke ist kein festgelegter Archetyp. Er könnte als Erkunder im Fantasy-Setting oder als Agent in einem Spionageszenario auftreten – je nach Interpretation.
Spielgefühl und Charakterentwicklung
Das Cypher System setzt stark auf Erzählung und Charakterspiel. Es ist weniger tödlich als viele traditionelle Systeme, da Charaktere mit einer gewissen Erfahrung starten.
Trotzdem gibt es Fortschritt: Erfahrungspunkte (EP) können für Verbesserungen, neue Fähigkeiten oder sogar zur Beeinflussung von SL-Entscheidungen genutzt werden. Die Charakterentwicklung erfolgt in sechs Stufen, die allerdings nicht zu schnell erreicht werden – EP sind wertvoll und vielseitig einsetzbar, nicht nur für einen Stufenaufstieg.
Und was ist nun mit Cypher?
Man kann mit dem System wunderbare Erkundungsabenteuer spielen. Die Cypher tragen dazu bei. Bei ihnen handelt es sich je nach Setting um Artefakte, vergessene Technologie oder rätselhafte Magie. Der Clou daran ist, dass man nur eine bestimmte Anzahl tragen kann, daher sollten sie immer verbraucht werden. Es sind Verbrauchsgegenstände, die Herausforderungen auf eine einzigartige Weise auflösen können.
Einschätzung und Fazit
Ich persönlich mag das System sehr – besonders aus Sicht eines Spielleiters. Die Vorbereitung ist schlank: Herausforderungen, NSC oder Effekte lassen sich spontan improvisieren. Die Regelwerke sind klar strukturiert und unterstützen ein narratives Spielgefühl.
Vorteile aus meiner Sicht
- Keine SL-Würfe notwendig
- Schneller Einstieg ins Spiel
- Starke Fokussierung auf Erzählung
- Flexibles Charaktersystem
- Genreunabhängig
Herausforderungen
- Im deutschsprachigen Raum noch wenig verbreitet
- Nur Numenera ist bislang übersetzt
- Einige Settings sind speziell (z. B. Predation, The Strange)
Hoffnung auf mehr Horror
Mit Old Gods of Appalachia und The Magnus Archives existieren zwei klassische Horror-Settings, die auf erfolgreichen Podcasts basieren. Wenn es eine neue deutsche Ausgabe des Cypher Systems geben sollte, dann vermutlich eines dieser beiden.
Und offizielle Kampagnen?
Offizielle Kampagnen gibt es kaum – das Cypher System lebt von der Idee des Play to Find Out. Die Philosophie ist: Baue deine eigene Geschichte. Wer also gerne eigene Abenteuer entwickelt oder improvisiert, findet hier ein mächtiges Werkzeug.